Krankheitsbericht
Anamnese
Der Patient wurde erstmals im Dezember 1999 aufgrund einer spinalen Ataxie Grad II (nach BÖHM, 1974) vorgestellt. Es wurde eine Spondylarthrose des Intervertebralgelenks C6/C7 diagnostiziert.
Es soll nun eine Nachuntersuchung erfolgen, um festzustellen, ob sich der Grad der Ataxie und die Spondylarthrose verändert haben. Ausserdem bittet der Besitzer um eine Einschätzung, bezüglich der späteren Nutzung als Reitpferd.
Kennzeichnung des Tieres
Bei dem zu untersuchenden Pferd handelt es sich um einen dunkelbraunen Westfalenwallach. Er ist dem Zahnalter nach zweieinhalb Jahre alt und besitzt folgende Abzeichen:
Stern, grosse Schnippe, hinten rechts Fessel ungleichmässig halbweiss mit einem Kronenfleck und einem Ballenfleck.
Untersuchungsbefunde
Allgemeinbefunde
Es wurde eine Allgemeinuntersuchung durchgeführt und folgendes festgestellt:
Allgemeinverhalten munter
Ernährungszustand mässig
Rektaltemperatur 38,0°C
Mandibularlymphknoten gelappt, fest-elastische Konsistenz
Maulschleimhaut rosa
KFZ unter 2 sec
Episkleralgefässe fein gezeichnet
Puls 40`/ min, kräftig, gleichmässig, regelmässig
Atemfrequenz 20`/min
Auskultation Herz, Lunge und Darm sind ohne pathologischen Befund
Kotkonsistenz geballt
Relevante klinische Befunde aus dem Status praesens
Der Patient zeigt eine permanent fehlende Koordination der Bewegungsabläufe, eine Gangataxie. Eine Standataxie, also ein schwankendes stehen mit allgemeiner Fallneigung, besteht nicht. Es wird eine spezielle Untersuchung der Ataxie durchgeführt:
Allgemeinverhalten munter
Anteilnahme an der Umgebung
aufmerksam
Kopf-Hals-Haltung pferdetypische Haltung von Kopf und Hals, ein senken zum Boden und aufrichten ist gut möglich
Atrophie der Halsmuskulatur
Der Hals ist dem Alter entsprechend wenig bemuskelt.
Beweglichkeit von Kopf und Hals
Aktiv: Beugung und Seitwärtsbiegung nach beiden Seiten sind gut möglich
Passiv: Seitwärtsbiegung nach rechts ist gut möglich (Maul erreicht seitliche Thoraxwand)
Seitwätsbiegung nach links ist nicht gut möglich, das Pferd wehrt sich und fällt mit der Hinterhand aus.
Prüfung der Sensibilität und der Reflexe
Hautsensibilität Kopf-Hals-Bereich normal
Gliedmassen normal
Rumpf normal
Lidreflex normal
Ohrreflex normal
Kronreflex vermindert
Fesselträgerreflex vermindert
Analreflex nicht geprüft
Schweifreflex nicht geprüft
Beurteilung des Ganges
Schritt: Übertriebenes Vorschwingen der Vordergliedmassen, dabei tappende Fussung.
Die Hintergliedmassen werden mähend geführt, dabei starkes Abwinkeln der Sprunggelenke verbunden mit ruckartigem Anheben und Nachschleifen der Hufe.
Trab: Die oben genannten Symptome sind undeutlicher, der Gang istleicht wiegend.
Verhalten beim antreten:
Deutlich tappende, paradeschrittähnliche Fussung
Verhalten beim durchparieren:
Unregelmässige Schrittfolge
Wendungen:
Sehr starkes Abwinkeln der Sprunggelenke mit übertriebener Abduktion der Gliedmasse und mähender Hintergliedmassenführung.
Drehen auf der Stelle:
Rechtsherum gut möglich mit dem Gangbild der Wendung sowie tappender Vordergliedmassenführung.
Linksherum nur stockend mit deutlichen Koordinationsschwierigkeiten, das Pferd führt das Drehen nur widerwillig aus.
Rückwärtsrichten:
Möglich
Kurze Befundung der nicht primär betroffenen Organe
In der Umgebung der Nüstern und der Maulspalte befinden sich zahlreich, circa stecknadelkopf- bis linsengrosse, warzenartige Gebilde. Sie sind gräulich, besitzen eine zerklüftete Oberfläche und sind zum Teil gestielt. Sie in der Haut verschiebbar.
Es besteht beidseitig muco-purulenter Augenausfluss. Die Konjunktiven sind gerötet und auf der Nickhaut sind stecknadelkopfgrosse, glasige Knötchen sichtbar.
Spezielle klinische Befunde im Rahmen des Krankheitsbildes unter Einbeziehung klinischer Hilfsuntersuchungen
Es wurde eine röntgenologische Untersuchung der Halswirbelsäule im stehen durchgeführt.
Dabei sind Rauhigkeiten der Knochenstruktur am Intervertebralgelenk C6/ C7 feststellbar. Schrägaufnahmen sowie Myelographie, Slap-Test und ergänzende Laboruntersuchungen sind nicht durchgeführt worden.
Diagnose
Es liegt eine mittelgradige spinale Ataxie sowie eine Spondylarthrose des Intervertebralgelenks C6/ C7 vor.
Ausserdem sind Papillome in Nüstern- und Maulgegend und eine Konjunktivitis follikularis vorhanden.
Ätiologie
Das Symptom der spinalen Ataxie wird bei diesem Patienten durch die vorhandene Spondylarthrose hervorgerufen. Diese führt als raumfordernder Prozess zu einer Einengung des zervikalen Wirbelkanals und somit zu einer Kompression des Rückenmarks. Die Leitungsbahnen, die der Propriozeption und Bewegungskoordination angehören (Hinterstrangbahnen und Seitenstrangbahnen des Kleinhirns) liegen an der Oberfläche des Halsmarkes. Sie werden traumatisch geschädigt, entzünden sich eventuell und es entsteht das Symptom der spinalen Ataxie. Je stärker und langanhaltender die Schädigung des Halsmarkes ist, desto deutlicher sind die sensomotorischen Ausfallserscheinungen.
Traumatische Einwirkungen wie zum Beispiel ein Überschlagen des Pferdes können diese Spondylarthrose hervorrufen, die spinale Ataxie entwickelt sich dann innerhalb von Wochen bis Monaten.
Liegt eine Spondylarthrose vor, die den Zervikalkanal nicht einengt, kann ein Trauma zu einer Rückenmarkskompression führen, so dass eine Ataxie plötzlich auftritt.
Differentialdiagnosen
Differentialdiagnostisch zur spinalen Ataxie müssen die cerebellare und cerebrale Ataxie ausgeschlossen werden.
Die cerebellare Ataxie ist oftmals angeboren, so dass die Symptome direkt oder Tage bis Wochen nach der Geburt auftreten. Ursache ist eine Funktionsstörung des Kleinhirns. Die erworbene Form der zerebellaren Ataxie kann in jedem Alter auftreten und ist traumatisch oder infektiös bedingt.
Cerebellare Ataxie äussert sich in einer von der spinalen Ataxie unterscheidbaren Koordinationsstörung. Es ist sowohl Gang- als auch Standataxie vorhanden. Die Inkoordination kann anfallsweise auftreten, eine Adaptation an unterschiedliche Bodenverhältnisse ist nicht möglich, es können Zwangsbewegungen auftreten. Das Ansteuern eines Zieles kann nicht geradlinig erfolgen.
Die cerebrale Ataxie kann in jedem Alter auftreten, sie ist bedingt durch Traumata oder Infektionen des ZNS. Gross-, Mittel- oder Zwischenhirn sind in ihrer Funktion gestört, so dass es zur Ataxie kommt.
Als infektiöse Erreger kommen in Deutschland EHV1und EHV4 (eventuell als Mischinfektion, rufen Encephalomyelitis hervor) und das Borna-Virus (verursacht Meningoencephalitis) in Frage. Klinisch ist unter anderem ein stark reduziertes Bewusstsein auffällig.
Die Symptome der cerebellaren und cerebralen Ataxie entsprechen nicht den Befunden des Patienten “x”.
Therapie/ Therapiekonzept
Die Therapie der spinalen Ataxie aufgrund einer Spondylarthrose erfolgt konservativ.
Medikamentell können nichtsteroidale Antphlogistika, Glucocorticosteroide oder DMSO-Infisionen eingesetzt werden, um eine Entzündung des Rückenmarkes zu behandeln.
War die Kompression des Rückenmarkes einmalig, kann sich das Symptom der spinalen Ataxie unter Umständen verringern. Eine abwartende Haltung ohne medikamentelle Therapie ist also gerechtfertigt und wurde auch seit Dezember 1999 durchgeführt.
Der Zustand des Patienten hat sich in den vergangenen viereinhalb Monaten nicht verändert. Die weitere Therapie besteht nun aus einem antrainieren des Pferdes. Mit dem Aufbau von Muskulatur durch longieren und durch Bodenarbeit, zum Beispiel mit Stangen, kann die Koordination und das Körpergefühl des Pferdes verbessert werden. Es besteht auf diesem Weg die Möglichkeit, dass die fehlende Koordination wenigstens teilweise kompensiert wird.
Prognose
Die mittelgradige spinale Ataxie, so wie sie in diesem Fall vorliegt, ist kein lebensbedrohlicher Zustand. Die Prognosis quo ad vitam ist also günstig.
Da sich der Zustand seit Dezember 1999 nicht verändert hat, ist die Prognosis quo ad restitutionem ungünstig bis infaust.
Das Pferd “x” ist mit diesem Ausmass der Bewegungsstörung nicht als Reitpferd geeignet, da eine Gefährdung für den Reiter bestünde. Verringert sich das Ausmass der Ataxie durch Training an der Longe deutlich, könnte eine Nutzung als Reitpferd erneut in Betracht gezogen werden.
Epikrisis
Bei “x” ist eine ausgeprägte, fehlende Koordination der Bewegungsabläufe vorhanden. Sie ist beim geradeausführen deutlich sichtbar , es besteht eine unregelmässige Schrittfolge und ein schwankender Gang. Dem Pferd ist das Traben möglich.
Diese Stärke der spinalen Ataxie entspricht einem Grad II, einer mittelgradigen Ataxie, nach der Einteilung von BÖHM, 1974.
Frau x führt zur Einstufung in drei Grade das Rückwätsrichten an. Bei geringgradiger Ataxie (Grad I) ist es möglich, bei mittelgradiger Ataxie (Grad II) kaum noch möglich und bei hochgradiger Ataxie (Grad III) nicht möglich. Unter diesem Aspekt wäre die Ataxie des Patienten als Grad I einzustufen. Da das ataktische Gangbild aber deutlich ist, stufe ich sein Symptom als Ataxie zweiten Grades ein.
Die Diagnose Spondylarthrose des Intervertebralgelenks ist anhand der durchgeführten röntgenologischen Untersuchung stellbar. Sie ist als ursächlich für das Symptom der spinalen Ataxie anzusehen.
Die spinale Ataxie des Patienten “x” hat sich nach viereinhalb Monaten nicht gebessert. Der röntgenologische Befund ist ebenfalls unverändert. Das weitere Vorgehen ist nun stark von dem Besitzer des Tieres abhängig. Der Aufbau von Muskulatur könnte dazu beitragen, dass das Pferd seine “Behinderung” zumindest teilweise kompensiert. Es muss also weiterhin Geld und vor allem Zeit in ein Pferd investiert werden, welches möglicherweise später doch nicht reitbar sein wird. Ein Erfolg der Bemühungen ist somit nicht zu garantieren, wobei ich nicht an eine Besserung des Zustandes glaube.
Der Besitzer scheint nicht gewillt zu sein, die genannten Investitionen tätigen zu wollen.