Hund-17 - Idiopathische Detrusor-Urethra-Dyssynergie (Reflexdyssynergie)

 

 

 

 

KRANKHEITSBERICHT

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Anamnese

 

·        Allgemeine Vorgeschichte:

Der Hund „x“ leidet schon seit längerer Zeit unter Harnabsatzproblemen; als Ursache wird Urolithiasis angegeben, in Folge erhält der Hund Low-pH-Futter. Im Juli 2000 wird vom Haustierarzt x eine Fistel angelegt , die allerdings nach ungefähr vier Wochen wieder verschlossen ist;  dennoch treten zunächst keine Beschwerden mehr auf. Am 20. September 2000 hat der Hund erneut Probleme beim Harnabsatz, weshalb er am 21. September in die Kleintierklinik gebracht wird. Der Hund ist adipös; bei Vorstellung hat er ein angespanntes Abdomen, Prostata und Harnröhre sind – soweit palpierbar – nicht schmerzhaft und nicht vergrößert. Beim laterolateralen Röntgen des Abdomens stellt sich die Prostata geringfügig vergrößert und die Harnblase kindskopfgroß gefüllt dar; Steine sind nicht zu sehen. Eine Blutuntersuchung ergibt erhöhten Leukozyten- und  Glucosegehalt, erniedrigte Werte für Hämoglobin und Hämatokrit sowie abgesenkte Gehalte an Calcium und Phosphat.  Der Harn ist mit einem pH-Wert von 7-8 zu alkalisch und enthält Steine; eine Steinanalyse ergibt zu 95% Struvit, zu 5% Calciumappatit. Die gefundenen Bakterien werden als Staphylokokkus intermedius-Keime diagnostiziert. Der Hund wird mit Baytril und Synulox nach Hause entlassen.

Am 16. Oktober 2000 zeigen sich erneut intermittierend Harnabsatzprobleme, verbunden mit Erbrechen von Futter und Schleim. Zusätzlich ist der Hund inappetent und apathisch, das Abdomen ist angespannt, aber nicht schmerzhaft. Röntgen des caudalen Abdomens zeigt noch immer Kristalle in der Blase. Der Hund wird nach Hause entlassen, soll aber täglich 3 x 1,5mg Prazosin und 3 x 10mg Diazepam bekommen.

 

·        Eigentliche Anamnese:

Seit dem Vortag (12. November 2000) hat der Hund akute Harnabsatzprobleme nach einer Begegnung mit einer läufigen Hündin. Seit dem Einlieferungstag früh morgens ist der Hund inappetent, hat sich mittags erbrochen und ist in der Folge zusammengebrochen.

Die verschriebenen Medikamente (Prazosin und Diazepam) sind zuletzt nicht mehr in der angewiesenen Dosierung verabreicht worden, nachdem sie zunächst nach dem Klinikaufenthalt wie verordnet gegeben wurden. Im weiteren Verlauf wurde zunächst nur die Diazepam-Dosis, später auch die Prazosin-Dosis wegen der scheinbaren Besserung des Zustandes vom Hundebesitzer herabgesetzt; nur bei erneuten Problemen wurden noch die Medikamente verabreicht.

Die Aufnahme in die Klinik erfolgt durch die Tierärzte x und x mit der Einstellnummer x.

 

 

2. Signalement

 

Bei dem vorgestellten Patienten handelt es sich um einen männlichen braunen Rottweiler-Mix-Hund namens x, der bei Einlieferung in die Klinik am 13. November 2000 noch unkastriert ist. Als Geburtsdatum wird vom Besitzer, x, der 03. September 1995 angegeben, der Hund ist demnach fünf Jahre alt. Das Körpergewicht des Hundes beträgt bei der Aufnahme in die Klinik

53,8 kg.

 

 

3. Untersuchungsbefunde der Aufnahmeuntersuchung am 

    13. November 2000

 

 

3.1 Allgemeine Untersuchung:

 

Bei Einlieferung zeigt „x“ ein deutlich verändertes Allgemeinbefinden mit aufgekrümmten Rücken und angespanntem Abdomen. Seine innere Körpertemperatur beträgt 38,0 °C, der Puls 98 Schläge pro Minute, die Atmung ist hechelnd. Die kapilläre Füllungszeit liegt unter 2 Sekunden. Die Schleimhäute sind blaßrosa, der Appetit ist gut.

 

3.2 Spezielle Untersuchungen:

 

·        Verdauungsapparat:

Der Hund erbricht sich, der Kotabsatz ist ohne Probleme.

 

·        Abdomen:

Die Prostata ist geringfügig vergrößert, aber nicht schmerzhaft.

 

·        Urogenitaltrakt:

Der Hund leidet an einem Harnabsatzproblem, die Blase ist prall gefüllt. Beim Katheterisieren ist der Katheter leicht vorzuschieben, eine Stenose ist nicht festzustellen. Hierbei werden ca. 1500 ml eines stark konzentrierten, geruchsintensiven Harnes abgelassen, der dunkelgelb bis braun und zum Ende hin trüb ist. Die Harnfistel ist ohne besonderen Befund.

 

Haut- und Haarkleid, Lymphknoten, Herz und Kreislaufsystem, Respirationsapparat, Muskeln, Skelett, Nervensystem, Ohren, Nase und Maulhöhle sind ohne besonderen Befund. Am rechten Auge zeigt sich eine kleine Umfangsvermehrung des Oberlides, aber ohne Veränderungen der Kornea. Festgehalten werden muß, daß der Hund weder entwurmt noch geimpft ist.

 

3.3 Weitere Untersuchungen:

 

 

3.3.1 Blutuntersuchung:

 

·        Hämoglobin:     14,0 g/dl                     (15-19)                    

·        Erythrozyten:     6,15 Millionen/ml       (5,5-8,5)

·        Leukozyten:      22,9 /ml                       (6-12)

·        Hämatokrit:       38,9 Vol%                  (44-50)                   

·        Thrombozyten: 329.000                    (200-500)

·        Natrium-Ionen: 149 mval/l                 (140-155)

·        Kalium-Ionen:   3,6 mval/l                   (3,5-5,1) 

·        Calcium-Ionen: 2,4 mval/l                    (8-12)                      

·        Harnstoff:          37 mg/dl                    (20-50)

·        Kreatinin:          0,88 mg/dl                 (bis 1,6)

·        Blutzucker:       113 mg/dl                   (60-90)                        

·        Gesamteiweiß: 7,66 g/dl                     (6,0-7,5)                      

 

3.3.2 Harnstatus:

 

·        Spezifisches Gewicht: 1034        (1015-1050)

·        pH-Wert: 7                                   (5-6)

·        Eiweiß: ++

·        Zellgehalt: normal

·        Bakterien: negativ

Hämoglobin: +++

·        Im Sediment finden sich viele Erythrozyten, massenhaft Leukozyten und Bakterien.

 

3.3.3 Die bakteriologische Untersuchung des Harns ergibt einen hochgradigen Gehalt an hämolysierenden Escherichia coli-Bakterien im Harn.

                                 

3.4 Verlaufskontrolle:

 

·        13. November 2000, nachmittags / abends

Nachmittags wird die Harnblase durch die Bauchdecke (problemlos) ausgedrückt, wobei blutiger Harn austritt, der kleine Harnsteine oder Harngrieß enthält. Gegen 22 Uhr setzt der Hund selbständig eine mittelgroße Menge an Urin ab, der kleine Steine enthält.

 

·        14. November 2000:

Der Hund ist sehr munter, das Allgemeinbefinden ist gut. Er frißt und trinkt und setzt Kot und klaren Harn ohne Blutbeimengungen ab.

 

Eine Ultraschalluntersuchung von Blase und Prostata ergibt eine kleine Blase mit ca. 5 cm Durchmesser und eine Prostata mit ca. 3,5 cm im Durchmesser.

 

·        15. November 2000:

Das Allgemeinbefinden ist gut; der Appetit ist eingeschränkt, aber der Hund trinkt gut und setzt Kot und Harn ab; in der Box finden sich geringfügige Blutspuren.

 

·        16. November 2000:

Die innere Körpertemperatur beträgt morgens 38,4°C, nachmittags (post-OP) 36,6°C, abends 38,0 °C. Abends ist der Appetit gut.

 

Der Hund wird kastriert: die Narkose wird mit Diazepam, Polamivet und Propofol eingeleitet und mit Lachgas und Isofluran erhalten; zusätzlich wird der Hund mit Sauerstoff beatmet und mit Sterofundin infundiert. Nach Schnitt in die Raphe Skroti folgt eine bedeckte Kastration mit Skrotumresektion; die Ligatur wird mit Vicryl 2 unter Durchstechung des M.scrotalis durchgeführt, die Unterhaut wird mit Vicryl 3-0, die Haut mit Ethilone 3-0 genäht.

 

·        17. November 2000, morgens:

Wundkontrolle: die Wunde ist trocken mit einer geringgradigen Wundschwellung.

Am späten Vormittag wird der Hund in der klinischen Demonstration vorgestellt und nachmittags nach Hause entlassen. 

 

 

 

4. Untersuchungsbefunde der eigenen Untersuchung am 

    17. November 2000, ca. 12 Uhr

 

 

4.1 Allgemeine Untersuchung:

 

 

Der am Vortag kastrierte Rottweiler-Mix-Rüde „x“ ist aufmerksam, munter und etwas aufgeregt; er steht gleichmäßig auf vier Beinen; die Rückenlinie ist gerade. Pflege- und Ernährungszustand sind gut. Der Puls beträgt 124 Schläge pro Minute, die Atmung ist hechelnd, wobei angemerkt werden muß, daß der Hund gerade aus der klinischen Demonstration gekommen und noch sehr aufgeregt ist. Die innere Körpertemperatur beträgt 38,5°C, die kapilläre Füllungszeit liegt unter zwei Sekunden.

Während der Vorstellung in der klinischen Demonstration jammert der Hund ständig, auch wenn er nicht berührt wird; während der Untersuchung im Stall jammert er nur bei Berührung der OP-Wunden-nahen Bereiche.

Bei Kontakt mit anderen Rüden wird „x“ sehr aggressiv und versucht, auf diese loszugehen.

Der Hund hat ein vollständiges Ersatzgebiß; auf den Eckschneidezähnen des Oberkiefers finden sich noch „Lilien“; das Alter des Hundes kann somit auf 5 bis 6 Jahre geschätzt werden, was sich mit den Besitzerangaben deckt.

 

 

4.2 Spezielle Untersuchungen:

 

 

4.2.1 Haut und Haarkleid:

 

Das Haarkleid ist – mit Ausnahme des für die Kastration rasierten Bereichs zwischen den Hinterbeinen – an  der gesamten Körperoberfläche glatt, mäßig glänzend, dicht und anliegend. Die Haut läßt sich problemlos vom Unterhautgewebe abheben, die dadurch gebildete Hautfalte verstreicht sofort.

 

 

4.2.2 Schleimhäute:

 

Die Maulschleimhaut ist zum großen Teil schwarzgrau pigmentiert, ansonsten rosa, feucht, glatt und glänzend. Die Augenbindehäute sind rosafarben, feucht und glänzend, im Bereich des dritten Augenlids sind auf der rechten Seite geringgradige Erhöhungen zu sehen. In den medialen Augenwinkeln befinden sich Tränenspuren.

 

 

4.2.3 Lymphapparat:

 

Die Kehlgangslymphknoten sind im Durchmesser bis zu einen Zentimeter groß und erbsenförmig und weisen bei fester Konsistenz eine unregelmäßige Oberflächenstruktur auf. Die Ohrspeicheldrüsen-Lymphknoten sind ca. 0,5 cm groß, die Buglymphknoten etwa 4x2 cm groß und länglich, die Axillarlymphknoten ungefähr 2 cm im Durchmesser und die Kniekehllymphknoten bis zu 6 cm und rundlich. Die oberflächlichen Lendenlymphknoten der rechten Seite sind mit annähernd 4 cm etwas vergrößert; auf der linken Körperseite können sie nicht ertastet werden. Alle ertasteten Lymphknoten sind druckunempfindlich, gegen die Haut verschieblich und der Körpertemperatur entsprechend warm.

 

 

4.2.4 Zirkulationsapparat:

 

Der Puls an der Arteria femoralis ist kräftig, regelmäßig und deutlich abgesetzt, wobei die Arterie gut gefüllt wird. Die Pulsfrequenz beträgt gleich der Herzfrequenz 124 Schläge in der Minute; die Herzschläge sind ebenfalls kräftig und deutlich abgesetzt. Die Herzschläge sind von der Atmung beeinflußt und somit leicht arrhythmisch.

 

 

4.2.5 Respirationsapparat:

 

Die Atmung ist costoabdominal mit Betonung des costalen Anteils. Bei der Inspiration ist in der rechten Lunge ein leises, regelmäßiges Knistern, im Kehlkopf ein dezentes inspiratorisches Rasseln zu hören.

 

 

4.2.6 Verdauungsapparat:

 

Während der Untersuchung nimmt der Hund eine kleine Menge Feuchtfutter sowie Wasser zu sich. Bei Auskultation sind leichte Geräusche im Grimmdarm links sowie ein sehr leises Zischen auf der rechten Seite zu hören. Ein Kotabsatz kann nicht beobachtet werden, ist aber laut Klinikkarte vor der klinischen Demonstration erfolgt.

 

 

4.2.7 Urogenitalapparat:

 

Im Auslauf setzt der Rüde spontan wenige Tropfen Urin ab, ohne zu pressen; allerdings hebt er dabei nicht das Bein, was eine Folge der frischen OP-Wunde sein kann. Wegen der Wunde entfällt auch die Palpation der Blase durch die Bauchwand.

 

 

4.2.8 Geschlechtsapparat::

 

Der Rüde ist am Vortag kastriert worden; die OP-Wunde ist überwiegend trocken. Da der Hund im freigeschorenen OP-Bereich noch leicht schmerzhaft  und empfindlich reagiert, wird auf die digitale rektale Exploration der Prostata verzichtet, ebenso wie auf das Ausschachten des Penis.

 

 

4.2.9 Bewegungsapparat:

 

Der Hund bewegt sich gleichmäßig und gerade ohne eine erkennbare Lahmheit; Knochen und Gelenke der Gliedmaßen sind symmetrisch, trocken und kühl.

 

 

 

4.2.10 Nervensystem:

 

Eine Untersuchung der Kopfnervenfunktion kann nicht vollständig beurteilt werden, da der Hund stark aufgeregt und abgelenkt ist; es finden sich aber keine Anzeichen auf eine hier lokalisierte Störung.

Durch die OP-Wunde wurden von den Haltungs- und Stellreaktionen lediglich die Aufrichtungsreaktion beider Körperseiten sowie die Korrekturreaktionen durchgeführt; ein Hinweis auf Störungen der auf- oder absteigenden Bahnen des ZNS liegt nicht vor.

Von den spinalen Reflexen sind Patellarreflexe, Flexorreflexe, Extensor carpi radialis- Reflexe und Pannikulusreflexe ohne besonderen Befund; Perianal- und Bulbusreflex sind übersteigert, was sich aber durch die noch schmerzende OP-Wunde erklären läßt.

Hinweise auf Störungen der Sensibilität liegen nicht vor.

 

 

5. Diagnose

 

 

Hauptdiagnose:

 

·        Idiopathische Detrusor-Urethra-Dyssynergie (Reflexdyssynergie)

 

Nebendiagnosen:

 

·        Urolithiasis

·        Cystitis

·        schmerzbedingtes Erbrechen

 

 

6. Ätiologie

 

Die Harnentleerung erfolgt durch Reflexe und wird durch Willkürreaktionen gesteuert. Der Detrusor ist parasympathisch, der Beckenboden mit Sphinkter somatisch und sympathisch innerviert. Rezeptoren in Blasenwand und Sphincteren registrieren den Spannungszustand und melden ihn via N.pelvicus (Parasympathicus) bzw. N.hypogastricus (Sympathicus) über den peripheren Plexus vesicalis in die Sakral- und Lumbalzentren des Rückenmarks. Diese Rückenmarkszentren stehen unter dem Einfluß übergeordneter Zentren im Mittelhirn (autonome Zentren) und in der Großhirnrinde (willkürliche Zentren). Infolge dieser vielseitigen Innervationsverhältnisse kann der Sitz der Störung unterschiedlich lokalisiert sein. Bei Inkoordination von parasympathisch vermittelter Blasenkontraktion und Harnröhrenrelaxation liegt eine Reflexdyssynergie vor. Durch übersteigerte sympathische Innervation oder durch geschädigte Parasympathicusanteile am Sphincter reicht die parasympathische Aktivierung zwar aus, um über den Detrusor die Harnblase zu kontrahieren, nicht aber, um gegen die sympathische Wirkung auch die Urethra zu relaxieren. Infolge dessen kommt es zu einer funktionellen Obstruktion der Urethra durch Spasmen oder unvollständige Erschlaffung der Sphinkteren.

Die Ursache für die Detrusor-Urethra-Dyssynergie ist zu großen Teilen unbekannt; eine mögliche Erklärung für die funktionelle Obstruktion der Urethra könnte aber eine Schädigung der parasympathischen Nervenendigungen der Urethra beispielsweise durch die Harnsteine und somit das Überwiegen der sympathischen Innervation sein. Das Krankheitsbild der idiopathischen Detrusor-Blasen-Dyssynergie tritt in den meisten Fällen bei männlichen, großen und schweren Hunden auf. Aufregung des Hundes, wie insbesondere sexuelle Erregung eines Rüdens bei Kontakt mit einer läufigen Hündin, wirkt in mehreren Fällen auslösend für ein erneutes Harnverhalten.

 

Urolithen können durch mit Salzen übersättigten Urin entstehen, wobei eine Alkalisierung des Harnes die Ausfällung dieser Salze und somit die Bildung von Harnkristallen fördert.

 

Die Cystitis wird im vorliegenden Fall durch den Harnstau, eventuell auch durch eine Schleimhautschädigung durch die Harnsteine, bedingt, wobei sich eine aufsteigende, bakterielle Infektion entwickelt. Anzeichen der Cystitis sind neben dem hochgradigen Gehalt an hämolysierenden Escherichia coli-Bakterien im Urin auch der erhöhte Harn-pH und die vermehrten Eiweiß- und Hämoglobingehalte sowie das Vorliegen einer größeren Menge von Erythrozyten, Leukozyten und Bakterien im Harnsediment; auch die angestiegenen Leukozyten- und Eiweißgehalte im Blut deuten auf eine bakterielle Entzündung hin.

 

 

7. Differentialdiagnosen der Hauptdiagnose

 

a) morphologische Ursachen:

 

·        Urolithiasis

·        Urethrastrikturen

·        Prostatahyperplasien

·        Prostatatumoren

·        Paraprostatazysten

·        Blasenverlagerungen in Inguinalhernie

·        in die Bauchhöhle vorgefallene Prostata

·        Blasenhalstumore (Trigonumgebiet)

·        andere raumfordernde Prozesse in der Beckenhöhle

·        scheinbare Anurie bei Ruptur von Blase oder Urethra

·        Agenesie der Urethra

 

b) neurogene Ursachen:

 

·        supranukleäre Rückenmarkläsionen

·        infranukleäre Rückenmarkläsionen

·        Schädigung der Blasenwandganglien

 

 

8. Therapie

 

a)     Therapie der Detrusor-Urethra-Dyssynergie:

 

·        a1-Rezeptoren-Blocker (Adrenolytika):

Der Sympathicus sorgt über den a1-Adrenorezeptor für eine Kontraktion des Sphinkters. Um den Sphinkter zu entspannen und so den Urin abzulassen, ist die Gabe eines a1-Rezeptoren-Blockers angebracht. Prazosin ist als selektives a1-Adrenolytikum besser geeignet als ein allgemeiner a-Blocker, da hier die Rückkopplung auf die praesynaptischen a2-Rezeptoren fehlt und es somit unter Prazosin nicht zu einer Erhöhung der Herzfrequenz durch vermehrte Freisetzung von Noradrenalin kommt. Die Dosierung sollte bei 0,1mg Prazosin pro kg Körpergewicht pro Tag liegen; die Dosis sollte auf drei Tagesrationen verteilt und oral gegeben werden.

 

·        Benzodiazepine:

Benzodiazepine haben eine stark dämpfende Wirkung auf Kerne des limbischen Systems und somit anxiolytische, antikonvulsive und relaxierende Wirkungen sowie in höheren Dosen eine zentral muskelrelaxierende Wirkung durch Hemmung polysynaptischer Reflexe hauptsächlich in der absteigenden Formatio reticularis. Zur Therapie der Detrusor-Urethra-Dyssynergie wird Diazepam in einer Dosis von 0,5 mg pro kg Körpergewicht per Tag oral auf drei Gaben verteilt gegeben.

 

·        Direkt wirkende Parasympathomimetika :

Der Parasympathikus sorgt über muscarinerge Rezeptoren für die Kontraktion des Detrusors und die Relaxation des Sphinkters, also für genau jene Wirkungen, die den Absatz des Urins ermöglichen.

In Frage kommen hier entweder Carbachol (20 mg pro kg Körpergewicht pro Tag subkutan) oder Bethanechol, wobei Bethanechol langsamer hydrolysiert wird und somit auch bei oraler Gabe länger wirkt. Das Problem jedes direkten Parasympatholytikums liegt in den Nebenwirkungen wie u.a. Bradycardien, Blutdruckabfall, Senkung der Kontraktionskraft des Herzens, Bronchokonstriktion und –sekretion, bzw. bei entsprechend hoher Dosierung auch nikotinerger Wirkungen wie Muskelzittern, Spasmen bis hin zu Lähmungen. Daher sollten direkt wirkende Parasympatholytika nur verabreicht werden, wenn das Tier ansonsten austherapiert ist oder eine völlige Blasenatonie vorliegt. 

 

b)     Therapie der Nebenbefunde:

 

·        Antiemetikum im akuten Zustand: Metoclopramid (MCP) in einer Dosierung von 0,5-1 mg pro kg Körpergewicht oral oder subkutan.

·        Therapie des Bakterienbefalls im Harnsediment: Baytril 350-450 mg am Tag oral

·        Therapie der Schmerzen durch die überdehnte Blase: Novalgin (Metamizol) in einer Dosierung von 20-50 mg pro kg Körpergewicht i.m oder langsam i.v.

·        Therapie der post-OP-Schmerzen: Temgesic 1ml subkutan bis zu dreimal am Tag

·        Prophylaxe einer verstärkten Urolithiasis: Verabreichen von Low-pH-Futter

·        Flüssigkeits- und Elektrolytsubstitution, besonders von Kaliumionen: Sterofundin-Kalium-Infusionen, Höchstdosis Kaliumionen am Tag 0,3 mmol pro kg Körpergewicht pro Tag.

 

 

9. Prognose

 

Die Prognose für den Hund „x“ muß vorsichtig gestellt werden. Zwar liegt anscheinend keine vollständige Schädigung der parasympathischen Anteile in der Urethra vor, da der Hund vor Einlieferung in die Klinik nahezu einen Monat ohne Medikation normal Harn abgesetzt hat. Auch muß eine Dysfunktion der Nervenendigungen nicht in jedem Fall irreversibel sein, sondern kann durch Schwellungen o.ä. bedingt sein. Bedeutsam für die Prognosestellung ist in jedem Fall, wie groß der Anteil der geschädigten Nervenendigungen im Verhältnis zu ihrer absoluten Zahl ist und wie schwerwiegend die Einschränkungen sind. Zudem wurde die Gefahr, daß sich der Rüde extrem aufregt und somit ein erneutes Harnverhalten ausgelöst wird, durch Kastration vermindert, da durch Hormonumstellung bei läufigen Hündinnen und auch bei anderen Rüden vermutlich nur noch abgeschwächte Reaktionen erfolgen werden. Der Grund für eine dennoch vorsichtige Prognose besteht in den möglicherweise durch die extreme Blasenüberdehnung und die Harnsteine bereits aufgetretenen Komplikationen wie beispielsweise sekundäre Muskelschäden, die dann zu Inkontinenz führen können. Auch mit Atonien muß gerechnet werden; Harnstau kann in jedem Fall Zystitiden und postrenale Azotämie verursachen. Die Prognose kann nur in dem Fall gut gestellt werden, wenn der Besitzer die verordneten Medikamente in den angegebenen Dosierungen regelmäßig verabreicht und der Harnabsatz kontrolliert wird, so daß im Bedarfsfall ein schnelles Eingreifen – auch im Hinblick auf Harnwegsinfektionen - gewährleistet ist. Auch die Harnsteine müssen für eine gute Prognose unter Kontrolle bleiben, weshalb der Hund auf jeden Fall weiterhin pH-reduziertes Futter bekommen sollte.

 

 

10. Epikrise

 

Die Diagnose „Idiopathische Detrusor-Urethra-Dyssynergie“ ist eine Ausschlußdiagnose, die erst gestellt werden kann, nachdem alle morphologischen und weiteren neurologischen Ursachen verworfen worden sind.

 

Eine Urolithiasis liegt zwar vor, kann aber nicht Ursache der völligen Harnverhaltung sein, da sich ein Katheter leicht vorschieben läßt, ohne auf eine Stenose zu treffen.

Das gleiche trifft auf eine Harnröhrenverlagerung z.B. durch Urethrastrikturen und auf das Abdrücken der Urethra durch äußere Prozesse zu. Prostatahyperplasien, Prostatatumoren und Prostatazysten können des weiteren ausgeschlossen werden, da die vergrößerte bzw. auch die in die Bauchhöhle vorgefallene Prostata sowohl bei der rektalen digitalen Palpation als auch beim Röntgen auffallen würde. Eine Blasenverlagerung liegt nicht vor, da die Blase mittels Palpation der Bauchwand und Röntgen an der üblichen Stelle lokalisiert werden konnte.

Ein Hinweis auf Blasenhalstumore oder andere raumfordernde Prozesse in der Beckenhöhle kann nicht gesehen werden. Eine scheinbare Anurie bei Ruptur von Blase oder Urethra kann hier sicher ausgeschlossen werden, da dies einen lebensbedrohlichen Zustand induzieren würde und unbehandelt innerhalb kurzer Zeit zum Tode führen würde, begleitet von schweren Störungen des Allgemeinbefindens. Eine Agenesie der Urethra kann nur bei neugeborenen Tieren beobachtet werden, da diese Mißbildung letal ist.

Eine supranukleäre neurogene Läsion, d.h. eine Rückenmarkquerschnittsläsion cranial vom vierten Lendenwirbel z.B. durch Traumata oder Diskusprolaps oder ausnahmsweise bei Hirnläsionen, führt zu einer großen, manuell schwer ausdrückbaren Blase ohne willkürliche Blasenkontrolle, so daß nach 5-10 Tagen sporadisch spontane unvollständige Entleerungen auftreten (automatische Blase). Die supranukleäre Läsion steht im Zusammenhang mit einer Nachhandparese oder Paralyse. Eine infranukleäre neurogene Läsion, d.h. eine Läsion im Bereich des Rückenmarks der ersten drei Schwanzwirbel oder seiner Efferenzen kann nach Becken- oder Kreuzbeintraumata auftreten; die Blase ist hierbei groß, schlaff, auspreßbar und ohne willkürliche Miktionskontrolle; bei Blasenüberfüllung entleert sich Urin, wobei die Blase aber groß bleibt (Überlaufinkontinenz). Bei dem Hund „x“ liegt demnach keine Rückenmarksläsion vor.

Von einer generellen Schädigung der Blasenwandganglien kann nicht ausgegangen werden, da der Hund ja mittels Pressen versucht, die Harnblase zu entleeren und auch kleine Mengen an Urin absetzen kann; die Innervation des Detrusors ist demnach zumindest nicht hochgradig gestört.

 

Da der Hund am 17. November 2000 nach Hause entlassen wird, kann eine weitere Beobachtung des Falles nicht erfolgen. Das Risiko weiterer Harnabsatzstörungen kann nur vermindert werden, wenn der Hundebesitzer die verordneten Medikamente tatsächlich verabreicht und dem Hund Urolithiasis-Diät verfüttert. Außerdem muß der Besitzer dazu aufgefordert werden, den Hund zu impfen und zu entwurmen.

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